Ich habe mich bei folgendem Gedanken ertappt:“ Wenn ich erst einmal ein Leben lebe, das zu 100% meinem wahren Kern entspricht, dann bin ich im Frieden mit mir selbst.“ Gleichermaßen weiß ich auch, dass es eine große Bewegung gibt, die Menschen jeglicher Altersgruppen dazu aufruft ihr wahres, authentisches Selbst zu suchen und zu leben – als Voraussetzung für Glückseligkeit im Leben. Den ultimativen Bliss sozusagen. Auch ich bin ehrlicherweise auf diesem Weg und versuche mein Leben nach und nach so auszurichten, von dem ich glaube fernab von Prägungen, gesellschaftlichen Normen wirklich ich selbst zu sein. Die Zwiebel schält und schält sich, windet sich und strengt sich an, weint und schnieft und kämpft um diesem verflixten innersten Kern endlich einmal näher zu kommen. Aber jetzt kommts, denn der Zweifel im Hinterstübchen vermeldet: Ist das zu Lebzeiten überhaupt zu schaffen? Oder sind viele, mir eingeschlossen, wieder einer ziemlich ausgefuchsten Marketingstrategie auf den Leim gegangen?
Bereits in Platons Höhlengleichnis wird das Bild eines Höhlenmenschen gezeichnet, der ausschließlich das Abbild der Wirklichkeit kennt. Nur durch Selbsterkenntnis, permanente Reflexion und Weiterentwicklung kann er aus der Höhle emporsteigen, um im Sonnenlicht, das ihn erst einmal extrem blendet, die Wahrheit der Dinge zu erkennen. Ich denke man kann Platons Gleichnis auch auf das eigene Selbst übertragen: Unsere Eltern erklären uns als Kind die Welt und wir übernehmen dies als die unangefochtene Wahrheit – vorerst. Im Zuge des Erwachsenwerdens erkennen wir, dass das was uns da nicht nur über die Welt an sich, sondern auch über den Menschen der wir vermeintlich sind erzählt wurde, oftmals eklatant von der individuellen Wahrheit abweicht. Da wird einem eingetrichtert man sei ein ach so sensibles Kind und viel zu schüchtern, man solle sich doch mal zusammennehmen und stark sein, um in der bösen Welt da draußen zu bestehen. Man glaubt so etwas lange, ich vermute manche Menschen ihr ganzes Leben lang. Anderen geht irgendwann auf, dass die eigene Sensibilität, richtig eingesetzt, die größte Stärke sein kann und, dass die vermeintliche Schüchternheit am Ende des Tages ein Wesensmerkmal einer introvertierten Persönlichkeit ist. Bekannterweise sind Wesensmerkmale in der DNA festgeschrieben, ein umschreiben des Erbguts soweit ich weiss unmöglich;-) (aber wer weiß was da noch kommt…) ! Und was macht man bis zu dieser Erkenntnis? Man müht sich ab, quält sich bis aufs Blut um irgendwie die eigene Schüchternheit abzulegen, eine dickere Haut zu bekommen und Ellenbogen auszufahren, um die Lebens- und Erfolgsleiter emporzusteigen. Konsequenz: Man laugt sich selbst aus. Man versucht jemand zu sein, der man schlicht und ergreifend nicht ist. Niemals sein wird. Wer es versucht, wird scheitern. Immer wieder. Punkt.
Wieviel schälen ist noch sinnvoll?
Ich bin an einem Punkt, an dem ich nicht mehr weiß ob das dennoch alles so sinnvoll ist mit dem permanenten Zwiebel schälen. Eine Hautschicht nach der nächsten, weg, weg, weg. Der Prozess ist dabei, das darf man nicht vergessen, kein Zuckerschlecken. Sondern brutal anstrengend. Dennoch beobachte ich auch: Wer dauerhaft ein Leben entgegen seiner eigenen Persönlichkeit lebt wird krank. Früher oder später. Daher ist das Streben nach einem Lebensentwurf, der einen in größtmöglicher Authentizität leben lässt im Grunde nicht verkehrt, wenn nicht sogar ein wichtiges Puzzleteil zu einem zufriedenen Dasein. Aber dieser wahre Kern da drin, diese 100%-ige Authentizität, ist die zu knacken? In einem Leben, das zu 80% im Alltag, im Außen stattfindet? Das einem Bombardement an Nachrichten, Mails, gesellschaftlichen Regeln, bei denen man nicht einfach sagen kann: „Macht ihr mal, aber ohne mich!“ und Beziehungen, die gepflegt werden wollen, damit sie Bestand haben, gleicht. Nicht zu vergessen: Pandemien, Kriege und Klimakatastrophen…wtf. Wo fängt man an, wo hört man auf? Soll ich schälen bis ich nackt und verrunzelt auf meinem Totenlager liege? Ist der wahre Auffstieg aus der Höhle, gar der Augenblick, in welchem ich meine Augen auf dieser Erde für immer schließe? Je länger ich darüber nachdenke, je mehr Lebensjahre vergehen, desto wahrscheinlicher wird diese Vorstellung für mich.
Gesellschaft am Limit.
Vielleicht sollte man etwas an der Kommunikation an die folgenden Generationen verändern: Schälen bis der Arzt kommt ist ein Tick zu performanceorientiert. Vor allem wenn die ganzen Life-Coaches ihre Life-Hacks verkaufen wollen. Ihr kommt nicht an den Kern! 1. Jede Lebensphase wird neue Bedürfnisse wecken. 2. Es ändert sich sowieso alles und permanent. Universelles Gesetz. 3. Die Gesellschaft, die Medien, der Druck treibt uns alle irgendwie ans Limit. Sprich: Du bist nicht allein! Keiner ist zu schwach, zu schüchtern, zu introvertiert, zu extrovertiert, zu dies, zu das. Machmal habe ich so Momente, in denen ich uns alle mit Karracho voll gegen eine Wand fahren sehe. Bis es knallt. Was dann noch von uns übrig ist, wage ich nicht auszusprechen.
Schälpausen sind wichtig.
Das einzige was mir mittlerweile noch wirklich sinnvoll vorkommt ist, wenn der auch Begriff mitterweile wirklich ausgelutscht ist: Achtsamkeit. Zwischendurch mal das Schälen ruhen lassen wenn es gerade zu heftig wird. Und einfach die Zeit für sich arbeiten lassen. Ich habe gerade auch die Hoffnung, dass sich das nächste Häutchen irgendwann von alleine löst, wenn die Zeit gekommen ist. Erzwingen, beschleunigen, mehr Performancedruck – frisst einfach zu viel Energie! Dennoch: Ganz ohne Schälen geht es aus meiner Sicht auch nicht. Warum? Weil aktiv verändern und gestalten angenehmer ist als sich Veränderungen, die ohnehin passieren, ausgeliefert zu fühlen. Und sich in einer Welt, die permanenter Veränderung unterliegt, nicht verändern bzw. entwickeln zu wollen ist schlicht und ergreifend: Ummöglich.