Die Philosophie als transformative Kraft? – Ein Diskurs.

Der Artikel ist zuerst auf dem Blog Kontrapunkte der Hochschule für Philosophie erschienen. Zum Anhören gibt es ihn auf Spotify, eingesprochen von der wunderbaren Stimmkomplizin Maike Bräutigam.

Wer die Philosophie argumentativ als Elfenbeinturm-Wissenschaft deklarieren und ihr jeglichen Praxisbezug und Einfluss auf gesellschaftlichen Wandel absprechen möchte, kommt an der 11. These aus „Karl Marx Thesen über Feuerbach“ nicht vorbei: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt darauf an, sie zu verändern.“[1] Dies ist eine steile These, wenn man bedenkt, dass sich bereits Sokrates als Philosoph aktiv ins politische Staatsgeschehen eingebracht hat, mit dem Ziel Athen zu einer gerechteren Stadt zu machen. Auch Ignacio Ellacuría ist mit seinem philosophisch-theologischen Wirken und seinen Werken, ganz im Sinne des Sokrates, ein bedeutendes Beispiel warum sich intellektuelle Redlichkeit und politisch wirksames Handeln nicht ausschließen müssen. Dennoch verstummt die Kritik am fehlenden praktischen Einfluss auf gesellschaftliche Transformation nicht. Vor dem Hintergrund zahlreicher sozioökologischer Umbrüche, die einen tiefgreifenden gesellschaftlichen Wandel bedeuten und erfordern, erscheint dieser Diskurs aktueller denn je: In einer Zeit, die geprägt ist vom Vertrauensverlust in die Demokratie und einer Gefährdung des europäischen Zusammenhalts, der unaufhaltsam fortschreitenden Digitalisierung, Flucht- und Migrationsbewegungen sowie einer drohenden Klimakatastrophe[2], wird die Brisanz und Dringlichkeit noch deutlicher. Doch was kann die Philosophie als transformative Kraft wirklich leisten und wo liegen ihre Wirkungsgrenzen?

Mit dem Rücken zur Welt

Begibt man sich auf Ursachenforschung nach Argumenten, dass Philosophie fernab realer Lebenswelten sei, führt es einen bereits zu den Urvätern der abendländischen Philosophie: Platon und Aristoteles. Platon selbst beschreibt in seinem Dialog Theaitetos den Philosophen anhand einer Anekdote über Thales, als einen weltfremden Menschen, der die Himmelskörper betrachtend in einen Brunnen fällt und so nicht einmal erkennt was direkt vor seinen Füßen liege.[3] Zwar sieht Sokrates gerade das als positive Eigenschaft und als Zeichen innerer Freiheit, aber das Bild eines von der Welt entrückten Denkers war geschaffen. Auch Aristoteles sieht die philosophische Abwendung von der Welt als essenzielle Notwendigkeit, um wahre Erkenntnis zu gelangen. Die Philosophie als Selbstzweck und eine vom Alltag abgewandte, sich selbst genügsame Tätigkeit. Obwohl er auch die praktische Philosophie mitbegründet hat, ist für ihn das Leben des reinen Denkens „das Lustvollste und Beste“ überhaupt. Dass es auch heute in aktuellen Diskussionen diese Haltung gibt, verdeutlichen die Thesen des Philosophen und Autors Wolfram Eilenbergers. Sein Vorwurf, die akademische Philosophie „habe sich in Binnendeutungs-Artistik verheddert und sei weltfremd geworden“ begründet er damit, dass „in den letzten 40 Jahren kein Philosoph das Differenzierungs- und Innovationspotential der 1920er-Jahre erreicht habe.“ Außerdem gebe es keine Verbindung mehr zur individuellen Lebensgestaltung. Die Hauptproblematik hierfür sieht er in der Tatsache, dass sich die Philosophie als Wissenschaft zu sehr an den Naturwissenschaften orientiere und führt dies auf institutionelle und ökonomische Gründe zurück.

Zugangsschwellen für den Common Sense

Gernot Böhme identifiziert folgende Zugangsschwellen zur praktischen Lebenswelt: Sprache, Abstraktheit des Denkens sowie Radikalität. Um die Philosophie sprachlich wirklich erfassen und verstehen zu können, benötigt es laut Böhme historische Zusammenhänge, die in der gängigen Allgemeinbildung nicht zwangsläufig vorhanden sind. Darüber hinaus wird dem Laien der Zugang durch eine indirekt und reflexiv erschlossene Wahrheit erschwert: „Das Gegebene soll aus dem Nichtgegebenen erklärt, das Konkrete aus dem Abstrakten verstanden werden.“ Vieles, was die Philosophie diskutiert sind nicht sinnlich wahrnehmbare Gegenstände sowie reflektiv oder spekulativ gewonnene Einsichten. Wer sich der Philosophie nähern möchte, muss alles was er bisher für wahr und richtig gehalten hat, in Frage stellen. Die Grundfesten und Sicherheiten des Alltagsbewusstseins werden dadurch erschüttert. Auf den Punkt gebracht sagt Böhme: „Die Philosophie mutet gewissermaßen schon an ihrer Pforte eine Veränderung des Denkens zu, gegen die sich der common sense sträubt.“[4]
Das von Prof. Dr. Barbara Schellhammer vorgebrachte Argument in einem Festvortrag an der Hochschule für Philosophie ist in diesem Zusammenhang essenziell: Es reiche nicht Begriffsdefinitionen festzulegen sowie Verhaltensregeln oder Anweisungen vorzugeben, um echte Transformation zu erreichen. Beachtung finden müsse über die Philosophie hinaus die vier Erfahrungsdimensionen des Menschen: die Existenz, der Leib, die Praxis und das Unbewusste. Sie führt hier Feuerbach an, in dem sie sagt, dass „gerade das im Menschen, was in einem klassischen Sinne nicht philosophiert, was vielmehr dem abstrakten Denken opponiert, in den Text der Philosophie aufgenommen werden sollte.“[5] Als Konsequenz bedeutet dies für gesellschaftliche Transformation, dass die Philosophie kulturelle Aspekte mit einbeziehen muss, um näher an die gesellschaftliche Lebenswelt heranzutreten und die Menschen aktiv zu erreichen. „Menschen wollen verstanden und nicht nur behandelt werden“, so Schellhammer.

Viel mehr als „nur“ Wissenschaft

Dass sich Philosoph*innen heutzutage in ihrem Diskurs mehrheitlich auf das beziehen, was andere ihrer Zunft bereits zuvor diskutierten und sich ausschließlich mit Problemen befassen, die die eigene Disziplin hervorbringt, ist zweifellos eine ziemlich eingeschränkte Sichtweise. Die Philosophie ist genauer betrachtet ein viel weiteres Feld. So führt Böhme beispielsweise folgende drei Arten des Philosophierens an: die Philosophie als Lebensform, als Weltweisheit und als Wissenschaft. Der rein theoretische Teil macht also nur ein Drittel des gesamten Spektrums aus. Die beiden ersteren lässt sich an Sokrates Beispiel an einer „Art zu leben“ definieren, während sich die Philosophie als Weltweisheit nach Kant um Probleme des öffentlichen Lebens kümmert.[6] Diese finden in der angewandten Ethik, der Politik und Ökonomik ihren Ausdruck.

Transformatives Potenzial historisch belegt.

Im historischen Kontext kann insbesondere das Zeitalter der Aufklärung im 18. Jahrhundert als die Zeitspanne hervorgehoben werden, in welcher Philosophen wie John Locke, Thomas Hobbes oder Immanuel Kant maßgeblichen Einfluss auf gesellschaftlichen Wandel ausübten. Einer von ihnen war auch Jean-Jaques Rousseau. Der einführende Satz in Rousseaus Buches Gesellschaftsvertrag „Der Mensch ist frei geboren, und überall liegt er in Ketten“ verdeutlicht welche Missstände er mahnend aufzeigte. In der Konsequenz wurde die Abschaffung der Aristokratie Wirklichkeit und die damit gewonnene Emanzipation der Bürger*innen. Toleranz und Bildung entwickelten sich zu essenziellen Grundfesten der Selbstentfaltung des Individuums, um die Gesellschaft zu Wohlstand und Fortschritt zu führen. Sein Bestreben nach sozialer Gleichheit war einer der Grundsteine für gesellschaftliche Veränderungen und wirkte über Marx bis in die Gegenwart fort. Eine Staatsform wie die Demokratie wäre ohne diese Bestrebungen, auch anderer Philosoph*innen, heute wohl kaum möglich. Marx‘ elfte These über Feuerbach ist zu Beginn als das Argument schlechthin für den fehlenden praktischen Einfluss der Philosophie angeführt. Sie kann aber auch anders interpretiert werden. Diesen Versuch unternimmt der Philosoph Kurt Bayertz in seinem Buch „Interpretieren, um zu verändern – Karl Marx und seine Philosophie“. Seiner Ansicht nach wollte „Marx die (soziale) Welt ja nicht nur interpretieren, sondern auch verändern. Er wollte sie interpretieren, um sie zu verändern.“[7] Auch Heidegger ist ein großer Verfechter der Sichtweise, dass eine Interpretation stets der Veränderung vorangehen müsse. Zitat Heidegger bezugnehmend auf Marx‘ elfte Feuerbachthese:

„Bei der Zitation dieses Satzes und bei der Befolgung dieses Satzes übersieht man, dass eine Weltveränderung eine Änderung der Weltvorstellung voraussetzt und dass eine Weltvorstellung nur dadurch zu gewinnen ist, dass man die Welt zureichend interpretierte.“[8]

Die Philosophie am Supreme Court

Der verantwortliche Redakteur der „Deutschen Zeitschrift für Philosophie“ Matthias Warkus beschäftigt sich in seinem Blog Warkus‘ Welt mit der Frage wie die Philosophie konkret unseren Alltag beeinflussen kann. In diesem Zusammenhang führt er ein sehr anschauliches Beispiel eines Urteils des US-Supreme Courts an. In einem Verfahren sollte verhandelt werden, ob es geschlechtsspezifische Diskriminierung sei, jemanden aufgrund seiner Homosexualität oder Transsexualität zu entlassen. Hierfür wurde dem Gericht ein Gutachten vorgelegt, das von einer Gruppe Jura- und Philosophieprofessor*innen erstellte. Das Gutachten leitet den Sachverhalt auf Basis amerikanischer Rechtsprechung sowie philosophischer Forschungsliteratur her. Das Ergebnis: Mit überzeugender Mehrheit entschied das Gericht zu Gunsten des Klägers und folgte somit der Argumentationslinie des Gutachtens. Der interessanteste Aspekt dieses Urteils ist jedoch, dass „die beiden als konservativ geltenden Richter, die mit für diese Entscheidung votierten, dies offenbar entgegen ihrer persönlichen politischen Überzeugungen getan haben.“ Das vorgelegte philosophische Gutachten hatte also direkten Einfluss auf die richterliche Entscheidung und somit auf das Urteil.

Education Sentimentale: Philosophische Kritik eröffnet Spielräume

Welches Verständnis bzw. welcher Geltungsanspruch sollte der Philosophie hinsichtlich ihres transformativen Potenzials zukommen, wenn man die vorangegangen Ausführungen mit einbezieht?

Prof. Dr. Lisa Herzog sieht die Stellung zwischen Elfenbeinturm und Marktplatz als Balanceakt, der im besten Fall die Fragen des Marktplatzes in den Turm trägt, und umgekehrt dessen Erkenntnisse das Leben der Menschen auf dem Marktplatz bereichert. Ein Problem sieht sie dann, wenn eine Seite die Überhand gewinnt. Auch die vorab genannten Vorwürfe Eilenbergers sind hier einzuordnen, da offensichtlich seiner Erfahrung die Theorie über der praktischen Seite der Philosophie steht, das heißt sich von der realen Lebenswelt abgewandt hat.

Ein wichtiger Ansatz findet sich meiner Meinung nach bei Hampe und seiner sogenannten „Erziehung des Herzens bzw. éducatión sentimentale“. Er stimmt in seinem Plädoyer für eine „nicht-doktrinäre Philosophie“ dahingehend mit Prof. Schellhammer überein, die ebenfalls nicht für Belehrung, sondern für menschliches Verständnis eintritt. Einer Philosophie als Kritik, die durch das Experimentieren von Begriffen, Spielräume menschlichen Lebens eröffnet, Blockaden auflöst und so Transformation ermöglicht:

„Transformationen lassen sich, diesem Bild zufolge, durch Erzählen und „Preisen“ initiieren, Denk- und Lebensmöglichkeiten durch alternative Beschreibungen eröffnen, ohne dass damit ein normativ zwingender Übergang vom Einen zum Anderen behauptet werden müsste oder könnte.“[9]

Dieser Ansatz ermöglicht es Individuen in ihrer Handlungsfähigkeit zu bleiben, sodass sie sich selbstbestimmt zu ihrem Leben verhalten können. Dies ist meiner Ansicht nach eine essenzielle Voraussetzung, wenn Transformation gelingen soll – sowohl auf individueller, als auch gesellschaftlicher Ebene. Die Philosophie besitzt also definitiv transformativen Einfluss aber nur, wenn sie ohne „Keule“ daherkommt und kulturelle Aspekte mit einbezieht. Dann können ihre Angebote, die das Selbstverständliche in Frage stellen eine neue Perspektive aufzeigen, Transformation begünstigen und anstoßen. Auf die vorab genannten kritischen Stimmen bezogen sei ihr jedoch geraten, die diskutierten Themen, welche sich häufig direkt auf gesellschaftliche Alltagsprobleme beziehen, in einer von allgemein verständlichen Begrifflichkeiten geprägten Sprache zu kommunizieren. Dann kann sich eine transformative Philosophie „zwischen dem distanzierten Blick und dem Sprung ins Leben vollziehen“.[10]

Quellen:

Böhme, Gernot; Prof.: Philosophie für jedermann? (dt. u. engl.) In: W. Christ (Hrsg.), Access for All. Zugänge zur gebauten Umwelt. Basel: Birkhäuser, 2009, S. 144-157. Gekürzt auch in Information Philosophie 5/2009, S.72-78

Jaeggi, Rahel: Philosophie als Kritik. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Jg. 63 (3), 2015, S. 569-576

Plato: Platons Dialog Theätet, 2., der neuen Übers. 1. Aufl., Leipzig, v427-v347, 1911, Meiner.
Karl Marx, Thesen über Feuerbach (1845), Marx Engels Werke Bd. 3, Berlin 1969, S. 7

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